Wo verlaufen die Grenzen zwischen Sinn und Unsinn? Was zählt für mich und worauf kommt es mir an? Fragen, die man sich zum Jahresende gerne stellt. Vielleicht entsteht ja gerade jetzt eine neue Vision deiner selbst. Darum: lausche den Tannen!
Mal so ganz generell gesagt scheint es, wie alle Jahre wieder: Wir schaffen bis kurz zu den Festtagen, als ob es danach kein Morgen gäbe. Dazwischen essen wir Unmengen ungesundes Zeug, bringen einen Apéro nach dem anderen völlig gestresst hinter uns. Nur um auch während den sogenannt besinnlichen Feiertagen von einer familiären Verpflichtung zur nächsten zu hetzen, uns masslos zu verköstigen und materiell zu beschenken. Da bleibt bei vielen weder Raum für Besinnlichkeit noch Zeit zum Innehalten. Es ist daher nicht von der Hand zu weisen: Mit einer Grippe im Bett zu landen, kann da echt ein Weg hinaus aus der zumeist sinnentfremdeten Mittwinterzeit sein.
Das nachfolgende Gespräch unter Tannen über die Menschen und ihre Gepflogenheiten in der dunkelsten Zeit des Jahres bietet möglicherweise einen Anstoss, sich selber zu fragen: Wo die Grenzen zwischen Sinn und Unsinn liegen, was zählt und worauf es tatsächlich ankommt.
Vom verschneiten Wald, oberhalb von Sigriswil, schweift der Blick über den nächtlich glitzernden Thunersee zum in sich ruhenden Hausberg, dem Niesen. Der Mond leuchtet hell und klar, als da drei Weisstannen in der Weihnachtsnacht ihr Gespräch beginnen. Denn der Legende nach, tragen nicht nur die Tiere in dieser Nacht die Botschaft des Friedens in die Welt: Auch die Bäume können dann sprechen. Menschen, die dafür einen Sinn haben, verstehen sie.
Die Urgrossmutter-Tanne blickt zurück und sagt: «Wie oft haben wir den Menschen zugesehen. Einst, als ihre Abende noch vom Feuer erhellt waren, haben sie den Sternenhimmel studiert und sich nach den grossen Rhythmen der Natur ausgerichtet. Besonders zur Wintersonnenwende waren ihr tiefes Staunen und Innehalten überall präsent.»
Die Grossmutter-Tanne fügt hinzu: «Ja, damals hielten noch kein elektrisches Licht, keine Zentralheizung und keine flackernden Bildschirme ihren Geist gefangen. Stattdessen lebten sie im Einklang mit dem Jahreskreis. Die Wintersonnenwende war mehr als nur ein Datum – sie war ein grosses Ereignis.»
Dazu weiss auch die in derselben Baumgruppe stehende Mutter-Tanne etwas: «Sie sagen, Weihnachten sei auf dieser Sonnenwende gebaut. Und dass es um die Rückkehr des Lichts geht, also um ein kosmisches Geschehen, das ihre Seele berührt. Doch es scheint, als ob sie das heutzutage vergessen haben.»
«Nicht ganz. Schau dir die Adventskränze an, die sie noch immer binden. Aus unserem Reisig, mit roten Bändern geschmückt und Kerzen, die nach und nach entzündet werden. Auch wenn sie es vielleicht nicht mehr bewusst spüren – das ist ein Nachklang ihrer alten Verbundenheit mit der Natur», so die Urgrossmutter-Tanne.
«Advent bedeutet Ankunft und bezieht sich auf das wiederkehrende Licht, also symbolisch auf das Sonnenkind, das in der längsten und dunkelsten Nacht jeweils wiedergeboren wird. Heute sprechen sie von einem Retter, einem Heiland, und haben eine neue Geschichte darum herum gesponnen. Doch geht es um dasselbe: Hoffnung, Wiederkehr, Neuanfang», fügt die Grossmutter-Tanne hinzu.
Die Mutter-Tanne bemerkt: «Habt ihr von diesem Pastor gehört, Johann Hinrich Wichern? Er soll den Adventskranz erfunden haben – damals mit 24 Kerzen, um Waisenkindern die Zeit des Wartens zu erhellen. Eine schöne Idee, findet ihr nicht?»
«Ja, das ist eine Geste der Menschlichkeit. Und doch frage ich mich, warum sie so viel von uns nehmen, auch um ihre Feste zu feiern, anstatt hierherzukommen, in den Wald und die Dunkelheit zu erfahren – und das Licht, wenn es zurückkehrt», brummelt die Urgrossmutter-Tanne, leicht verdrossen.
Die Grossmutter-Tanne ist nie um eine Antwort verlegen und meint: «Vielleicht, weil die Welt sich so verändert hat. Sie haben ihre Wurzeln verloren – nicht wie wir, die tief im Boden stehen. Aber ich sehe ihre Sehnsucht. Wenn sie hier wandern, wie sie stehenbleiben und schweigen. Der Blick auf den Thunersee oder den Sternenhimmel lässt sie nämlich öfters innehalten.»
Nach einigem Schweigen äussert sich die Mutter-Tanne: «Meinst du, sie könnten wieder lernen, mit den natürlichen Rhythmen zu leben? Den Sinn hinter ihren Jahresfesten zu verstehen, über die Dunkelheit und das Licht zu sinnieren? Sich Zeit zu nehmen und mehr zu sein, als zu tun?»
Es tritt eine grosse Stille ein. Woraufhin die Urgrossmutter-Tanne das weihnächtliche Gespräch mit diesen Worten beschliesst: «Vielleicht könnten sie das. Aber nur, wenn sie sich selbst erlauben, still zu werden. Sich Zeit nehmen, so wie früher, als sie die Sonnenwenden noch ehrten und wussten: Jeder Wendepunkt im Jahr ist auch ein Wendepunkt im Leben.»
Die Tannen schweigen nun wieder und lauschen dem Wind, der ihnen noch mehr Geschichten von Winterfesten zuflüstert. Unter ihnen liegt Sigriswil, in der Dunkelheit geborgen und über ihnen der Sternenhimmel, still und unendlich, so wie eh und je.